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Ein renommierter Russischer Dichter schreibt eine Erzählung zu Ingolstadt. Über Alexander Kuprins Kurzgeschichte „Der Scharfrichter von Ingolstadt“
Gerd Treffer 

Historische Blätter Ingolstadt - Jahrgang 14 - Ausgabe Nr.161 vom 01.12.2024

Dass der durchaus bekannte russische Schriftsteller Alexander Iwanowitsch Kuprin eine seiner wortgewaltigen, gedrängten Erzählungen in Ingolstadt ansiedelt, ist nicht gänzliche unbekannt, sollte aber immer wieder, gelegentlich, in Erinnerung gerufen werden, was hier geschieht. In der Erzählung über den Scharfrichter von Ingolstadt greift Kuprin das Motiv der Herbergssuche auf, verlegt sie aber in das spätmittelalterliche ritterliche Umfeld des 13. Jahrhunderts und verbindet es mit der von Fürstenhand gewährten Belohnung für einen dem unbekannten Herren erwiesenen Dienst. Zu den bislang unenthüllten Geheimnissen gehört, warum Krupin Ingolstadt als Ort der Handlung wählt, warum er einen leibhaftigen Herzog Heinrich II. („ Ich, Herzog von Schwaben“) allein, verlassen, Eskorten-los nach Ingolstadt ziehen lässt, wo er um einen Bissen Brot und ein warmes Nachquartier bettelt.

Kuprin zählt zusammen mit seinem Landsmann Iwan Bunin, der, wie er, 1870 zur Welt kam und 1933 den Literatur-Nobelpreis erhielt, zu den namhaften älteren Vertretern der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, zu denen, die das zaristische Russland erlebten, sich aber auch mit dem sowjetischen Regime auseinanderzusetzten hatten. Kuprin war Sohn eines zaristischen Beamten als Vater und einer Mutter aus verarmtem tatarischem Adel, wurde Offiziere, quittierte den Dienst, war „Privatier“ und widmete sich der Schriftstellerei. Er machte die Bekanntschaft von Anton Tschechow , wurde für seine literarischen Werke von Tolstoi gelobt, schloss Freundschaft mit Maxim Gorki (, die später zerbrach). Anders gefasst: Kuprin war vielleicht kein Schriftsteller vom Format Dostojewskis oder Tolstois, wohl aber ein in den literarischen Kreisen Europas – vor wie nach der Russischen Revolution – bekannter Literat.

Kuprins novellistische Bearbeitung des Ritterschlags in Ingolstadt ist einer der seltenen Fälle, in denen ein russischer Autor einen Stoff aus der deutschen Sagen- oder Geschichtswelt nützt. Wobei die in Ingolstadt sorgfältig gesammelten Sagen für Kuprins Narrativ keine „Vor-Geschichte“ zu enthalten scheinen und die Erzählung im heutigen Estland nah der Stadt Rakvere endet – in der Nähe zu Sankt Petersburg, wohin Kuprin 1901 zog und dort einige seiner besten Erzählungen schrieb.

Kuprins Ingolstädter Geschichte beginnt in einer Rauhnacht. Anno 1199. Schneesturm. Ein Mann nähert sich einem Stadttor Ingolstadts. Er trägt ein zerschlissenes Wams, einen breiten Filzhut. Er ist offenbar erschöpft. Ingolstadt scheint ausgestorben. „In den schmalen Straßen und Gäßchen war keine Menschenseele zu sehen. Die Türen und Fenster mit Balken verrammelt… und nur ab und zu drang durch die Ritzen ein schwacher Lichtschein…“ Der Fremde klopft, er ahnt schlürfende Schritte. Er hört eine fragende Stimme. „Welcher Teufel treibt sich zu dieser Zeit herum? Was willst Du? –Lasst mich um Gottes Willen ein, ruft der Wanderer, ich sterbe vor Hunger“. Der Mann hinter der Tür antwortet: „Wir kennen diese hungrigen Landstreicher, scher Dich zum Teufel, dort wird Dir wärmer sein. – Ich brauche einen Winkel zum Schlafen und einen Bissen Brot. Ich werde mit Gold bezahlen“ – „Wenn Du Dich nicht sofort davontrollst, so hetze ich die Hunde auf Dich“.

Das geschah nach Kuprins Mähr vor dem Haus des „reichsten Manns der Stadt“, den Kuprin flugs zum „Bürgermeister“ erklärt (,was jenseits der Begrifflichkeit und auch der Realität der damaligen Zeit liegt). Es folgt eine Passage, die dem bayerischen Volksliederschatz und dem Krippenlied „Wer klopfet an?“ entnommen scheint. Erschöpft schleppt sich Krupins Wanderer „durch die schweigenden Gassen“, bleibt zuweilen stehen, klopft, aber immer vergebens. Nur aus einem Haus antwortet ihm eine alte Frau: „Du bist wohl ein Fremdling, dass Du in einer Rauhnacht um ein Nachtlager bittest. Hast Du nicht gehört, dass in dieser Nacht kein Mensch einen Fremden ins Haus lässt, denn der Fremde bringt sein Unglück mit ins Haus.“ Und die Alte rät: „Komm morgen, und ich werde Dir Gänsebraten und Bier geben.“ Der Mann zieht weiter und „kommt in die Nähe der Donau“. Die Stadthäuser treten zurück, er sieht die Hütten der Taglöhner. „Auch hier klopft er vergebens.“ Krupin sieht das so: „Aberglauben verschloss in dieser Nacht Tür und Tor vor fremdem Unglück.“

Hinter der Stadtgrenze erste stößt der Fremde auf ein hellerleuchtetes Haus. Durch das Fenster sieht er einen stämmigen Mann in einem rotseidenen Kaftan und ein junges Mädchen. Er klopft. „Tretet ein, die Tür ist nicht verschlossen.“ Der Wanderer betritt das Zimmer, „der Geruch von Schweinernem weht ihm entgegen.“ Der Hausherr sagt: „Braucht man auch heute meine Arbeit? Wenn ja sagt Euren Richtern, dass ich weder heute, noch morgen mein Haus verlasse…“ Der Fremde nimmt seinen Filzhut ab und der Hausherr, ein „edles Gesicht sehend, frägt: Was wünscht Ihr, Herr – Ich bitte um ein Stück Brot und um ein Nachtlager, und ich bin bereit, auf dem Boden zu schlafen. Überall in der Stadt habe ich angeklopft, aber niemand hat mich eingelassen. Ich werde Euch mit Gold entlohnen.“ Der Hausherr verneigt sich (tief). „Ich nehme kein Geld von Euch. Mein ganzes Haus steht zu Euren Diensten. Aber ich fürchte, wenn Ihr erfahrt , wer Euer Gastgeber ist, dass Ihr es vorziehen werdet, wieder in den Sturm hinauszuziehen.“ Der Angesprochene erwidert: „Ist es nicht einerlei, wer Ihr seid. Ich sterbe vor Hunger und Durst, hab mir die Füße erfroren. Ob Ihr Welfe oder Gibelline seid, friedlicher Bürger oder Mörder, gebt mir ein Stück Brot und redet nicht von Eurem Beruf.“ Die Haustochter, Leonore ( man erfährt außer dem Namen von ihr nichts), bringt Fleisch, Schinken und Wein. Trotz der Aufforderung aber weigert sich der Hausherr, sich zu seinem Gast an den Tisch zu setzten. Bis der Fremde aufsteht und in befehlendem Ton sagt: „Ich Heinrich II, Herzog von Schwaben, befehle Euch, Beruf und Namen zu nennen!“. Der Mann zittert und bekennt, er sei Karl Eisenmann und der Scharfrichter von Ingolstadt. Es heißt: „Die Brauen des Herzogs zogen sich zusammen, dann riss er rasch das breite Schwert aus der Scheide, berührte damit die Schultern Eisenmanns und sprach: ‘ Ich schlage Dich hiermit zum Ritter der schwäbischen Krone . Steht auf Ritter von Eisenmann‘ und reichte ihm freundlich die Hand.“
So wurde, nach Kuprin, „in einer Rauhnacht, an der Schwelle des 13. Jahrhunderts aus dem Scharfrichter von Ingolstadt ein Ritter.“

Mutmaßlich hatte der Ritter von Eisenmann (außer dem Töchterlein Leonore, das den Fremden , der sich als Herzog entpuppte, bedient hatte) keine männlichen Nachkommen. Deshalb starb sein Geschlecht aus, als er in der Schlacht bei Wesenberg für seinen Herzog focht und fiel. Das Treffen fand anno 1268 statt, als eine Streitmacht von Deutsch-Ordens- und dänischen Rittern gegen ein russisches Invasionsheer kämpfte und unterlag. Dieser Schluss der Geschichte des „Scharfrichters“ ist weit von Ingolstadt entfernt. Und Kuprin war vermutlich mit dem realen Ingolstadt nicht vertraut, wie ihm auch die Wirklichkeit einer spätmittelalterlichen Stadt und ihre Struktur und Gewohnheiten für seine Geschichte als irrelevant und völlig gleichgültig erschienen. Wie er die Stadt schildert, in die man des Nachts, ohne Stadttore passieren zu müssen, hineingelangt, in der ein obskurer Fremder ungefragt und ungehindert von Haus zu Hütte wandern und anklopfen kann, steht jenseits der historischen Realität, auf die es aber dem Autor nun wirklich nicht ankam. Kuprin war einer der letzte Vertreter des „russischen Realismus“, die sich gegen die Auswüchse des „Ur-Kapitalismus“ wandten und den „niederen Schichten“ vermehrte Aufmerksamkeit widmeten. Kuprin stand Tschechow und (zeitweise) Gorki nahe und war interessiert an der „Psychologie“ der einfachen Leute , der Alltagssituation ihres Lebens, aber auch an dem Verhalten, das ihre Lebensumstände zu Tage brachten.

Kuprin, sagen die Literaturkritiker, war ein Meister der kurzen, erzählerischen Prosa, der „in wenigen Sätzen starke Gestalten und Landschaften entwarf und mit Assoziationen spielte“, hier mit dem Urmotiv der Herbergssuche und dem Standardmotiv der ritterlichen Belohnung der Anständigkeit, der aber auch erinnert an die Gossen- und Schurken-Gestalten seiner russischen Schriftstellerkollegen.

Bleibt zu erforschen: Wie kam Kuprin auf Ingolstadt?

Bleibt anzuerkennen: Der Donau Kurier hat Kuprins Erzählung in seiner Weihnachtsausgabe (27. Dezember 1956) abgedruckt.