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Beim Pfeifturmwächter

 
Rathausplatz um 1900. Foto: Stadtarchiv Ingolstadt
Herr Böhm hatte zum Historischen Stammtisch eine ihm bekannte Ingolstädterin zum Erzählen eingeladen, deren Vater der letzte Nachtwächter auf dem Pfeifturm war.
Frau Josefine Klinger (frühere Bleicher Fini), liebevoll von ihren Verehrern "Turmschwaiberl" genannt, ist 1913 in Ingolstadt geboren und unterhält heute in der Ludwigstrasse den einzigen, weithin bekannten lngolstädter Maskenverleih.

Pfeifturm um 1840. Foto: Stadtarchiv Ingolstadt Pfeifturm um 1930. Foto: Stadtarchiv Ingolstadt
Ihr Vater war gelernter Schuster und 1915, also während des 1. Weltkrieges, als der Großteil der männlichen Kundschaft an der West- oder Ostfront kämpfte und das Geschäft schlecht ging, nahm Herr Bleicher das Angebot der Stadt Ingolstadt an, um als Nachtwächter auf dem Pfeifturm für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. (Damen- und Kinderschuhe konnte man ja auch nebenbei hoch droben über den Dächern der Stadt reparieren.)
Für 70.- Reichsmark im Monat versah Herr Bleicher bis 1937 dort oben seinen verantwortungsvollen Dienst.
Das kleine Finerl war also gerade 2 Jahre alt, als es zusammen mit seinem Bruder auf den Turm kam.

Begeistert schwärmte Frau Klinger von ihrer Kindheit! Fröhlich ging es immer zu auf dem Turm, es wurde viel gesungen, getanzt und gespielt. Der Vater baute für seine Kinder eine Schaukel im Turm und der Storch, der damals noch um den Turm flog, erhörte die Bitten der kleinen Fini und brachte eines Tages ein Schwesterchen. Ein geliebter Spielgefährte des "Turmschwaiberls" war eine gezähmte Turmdohle. Zur Freude der Kinder hielten die Eltern auch Hasen im Turm und für eine kurze Zeit sogar eine Ziege, was von der Stadt natürlich nicht erlaubt war. Aber die Zeiten waren schlecht und wer kümmerte sich da schon um solche Verbote. Leider mußte die Goaß dann bald notgeschlachtet werden, weil sie mit ihrem Gemecker mehrmals die Sonntags-Predigten des Moritzpfarrers störte und deswegen eine städtische Kommission auf dem Turm erschien, um nach dem Rechten zu sehen.

Pfeifturm. Foto: Stadtarchiv Ingolstadt
Die Familie Bleicher bewohnte 3 Räume im Turm: Das große Turmzimmer mit Umgang, es diente als Arbeitszimmer des Vaters, war aber gleichzeitig auch Wohnzimmer und Küche, weil es durch einen schönen alten Kachelofen beheizt werden konnte. Über dem Turmzimmer befanden sich das Schlafzimmer der Eltern, sowie ein kleines Zimmer für die Kinder. Es gab kein elektrisches Licht, sondern Karbidlampen, genauso wie es kein fließendes Wasser und somit natürlich auch kein Bad gab, lediglich ein Plumps-Klo war vorhanden. Mehrmals am Tag sprang das Finerl die 210 Treppen runter und wieder rauf, wobei auf dem Weg nach oben immer ein Eimer Wasser oder ein paar Scheit Holz mitgenommen werden mußten.

Horn im Stadtmuseum. Foto: Kurt Scheuerer
Da es natürlich damals mangels Elektrizität auf dem Turm noch kein Telefon gab, wurde im Falle eines Brandes in der Stadt, die Polizei durch ein Sprachrohr, das zum Rathaus hinunter ging, informiert. Die Bürger hingegen wurden durch die Feuerglocke geweckt. Dazu war Ingolstadt in mehrere bestimmte Viertel eingeteilt und je nachdem in welchem Viertel es brannte, läutete die Glocke 4 mal oder 7 mal (z.B.: Viertes Viertel - bam, bam, bam - bam, bam bam - bam, bam, bam - bam, bam, bam). Der aufregendste Großbrand damals war 1922, als das Hotel Rappensberger abbrannte. Herr Bleicher hielt aber auch Ausschau nach eventuellen Bränden in den umliegenden Dörfern, denn dann mußte die Stadtfeuerwehr ebenfalls verständigt werden. Es soll sehr schwierig gewesen sein, nachts zu unterscheiden ob es nun gerade in Etting, Gaimersheim oder Rackershofen brannte und meistens hatte dann im Zweifelsfall die Mutter den besseren Orientierungssinn.

Einmal - so erinnert sich Frau Klinger - geriet sie richtig in Panik, weil zwischen den Weihnachts- und Neujahrsfeiertagen ein so heftiger Fönsturm, herrschte, dass sie fürchtete, der Sturm werfe den Turm um. Dabei war sie das ganz normale Schwanken des Turmes von 45 cm gewöhnt.
Bei schönem Wetter hatte man eine herrliche, weite Aussicht und im Frühjahr und Herbst war es sogar möglich, in der Ferne die Alpenkette zu sehen.
Der Vater hatte zur dienstlichen Beobachtung auch ein Fernrohr, mit dem die Kinder das bunte Treiben in den Straßen der Stadt beobachten konnten. Da gab es viel Interessantes zu sehen und vor allem der ältere Bruder von Frau Klinger beschäftigte sich an sonnigen Tagen fleißig mit dem Fernrohr, nachdem er festgestellt hatte, dass es Ingolstädterinnen gab, die sich auf ihren Dachterrassen genüsslich eine nahtlose Sonnenbräune aneigneten. Leider hat Vater Bleicher den Grund für die sommerliche Nahsichtbegeisterung seines Sprösslings bald entdeckt und aus Erziehungsgründen den "Pfeifturmporno" unterbunden, indem die Benützung des Fernrohrs nur noch den Erwachsenen bzw. unter deren Aufsicht genehmigt war.
Hin und wieder kamen auch Ingolstädter auf den Turm, die ihre Zukunft so trostlos sahen, dass sie vom Turm springen wollten und Frau Klinger weiß, dass ihre Eltern so manchen trösten mußten und vom Todessprung abgehalten haben.
Damit die Ingolstädter wussten, was ihnen die Stunde schlug, war der Nachtwächter auch für das Aufziehen der Turmuhr zuständig, d.h. eigentlich war ein Ingolstädter Uhrmacher dazu beauftragt, aber dieser war gehbehindert und um ihm das anstrengende Treppensteigen zu ersparen, wurde die Turmuhr täglich von den Kindern aufgezogen.

Frau Klinger meinte, es gäbe noch viele schöne Geschichten vom Leben auf dem Turm zu erzählen, ein Abend reicht dazu gar nicht aus. Wir jedoch waren dankbar, dass sie uns mit ihren amüsanten Erinnerungen einen Abend lang unterhalten hat. Es wurde daraufhin beschlossen, im kommenden Frühjahr eine Turmbesteigung zu unternehmen. Zum Dank für den netten Abend wollen wir das "Turmschwaiberl" mit hinaufnehmen, sie war nämlich seit 1937 nicht mehr auf dem Pfeifturm.

Irmgard Gutzeit, ca, 1990


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