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Kurt Scheuerer
Die geistige Entwicklung des urgeschichtlichen Menschen

Urtriebe

Chemische Vorgänge laufen entweder ab oder nicht.
Ein Lebewesen kann einen solchen Ablauf als angenehm empfinden (beim Ausbleiben können dann Entzugserscheinungen auftreten), aber auch als schmerzhaft.
Solche Urempfindungen bewirken Urtriebe: Genuß, Sexualität, Hunger und Angst, welche die Handlungen der höheren Lebewesen steuern.
Allein dem Menschen ist es gegeben, seine Triebe und Wünsche einer Wertordnung zu unterziehen und somit seine Handlungen willentlich zu beeinflussen.

Der Mensch

Der Mensch besitzt nach Kant (um 1770) eine dreifache Anlage: er ist ein Lebewesen mit Bedürfnissen, ein Mensch mit Bewußtsein und eine Persönlichkeit mit Vernunft.
Auch bei Pestalozzi ist der Mensch Werk der Natur, der Gesellschaft und seiner selbst.
Als zweifaches Tierwesen beschreibt ihn Groothoff: als vernunftfähiges mit einem Lebensdrang und als vernünftiges mit einem Sinn für das Schöne und Gute, einem ästhetischen Geschmack und einem Gewissen. (Das Fischer Lexikon, Pädagogik, 1964, S.225.)

Die Ausformung zum Menschen - einer bewußten, vernunftbegabten Persönlichkeit -
muss sich schrittweise vollzogen haben:

Gesichtskontakt

Der Gesichtskontakt hatte bei aufrechter Haltung vermutlich an Bedeutung gewonnen; eine Bewußtseinsbildung, das Erkennen von Ich und Du, könnte allmählich eingesetzt haben; eine persönlichkeitsbezogene Zuneigung zwischen Mann und Frau dürfte sodann die Folge gewesen sein.
Die Sexualität konnte dadurch den Charakter eines, bei den Tieren weitgehend durch Duftstoffe ausgelösten, automatisch ablaufenden Aktes verlieren.
Die Frauen und ihre zahlreicheren Kinder benötigten nunmehr einen stärker geschützten Lagerplatz und somit beschützende und versorgende Männer.
Dies alles könnte wohl zur Bildung von Großfamilien geführt haben.

Denken

Nur dem Menschen ist ein zielstrebiges Vorausdenken zu eigen.
Zum einfachen Werkzeuggebrauch sind auch schon einige Tiere befähigt; Schimpansen z.B. sind in der Lage, mit bloßen Händen Äste zu Stöcken herzurichten, mit welchen sie in Erdlöchern nach Nahrung stochern können.
Aus dem Rohmaterial Ast wird hier unmittelbar das Endprodukt Stock hergestellt.
Von echtem Denken kann dann gesprochen werden, wenn mit einem (primären) Klopfstein ein (sekundäres) Steinwerkzeug mit der Absicht herstellt wird, mit ihm ein weiteres (tertiäres) Gerät zu verfertigen; beispielsweise einen Stock zuzuspitzen, um einen Speer zu erhalten. (Rensch, B. Handgebrauch und Verständigung bei Affen und Frühmenschen. Besprechung durch K. J. Narr in Germania 51, 1973, 293- 296.)
Diese Befähigung darf beim Homo erectus vermutet werden.

Sprache

Manche Affen und Meeressäuger können sich über bestimmte Dinge miteinander verständigen; einigen Schimpansen hat man bereits beigebracht, einzelne Gegenstände und auch Tätigkeiten mit Gesten, Wörtern und Symbolen zu benennen.
Menschliche Sprache jedoch setzt nicht nur die körperliche Lautbildungsfähigkeit voraus, welche zum Teil wohl bereits beim Homo erectus gegeben sein dürfte.
Sprache bedeutet Klassifizieren von Gegebenheiten, also ein Bilden von allgemeinen Begriffen über das einzelne Objekt hinaus; sie setzt ein strukturelles und ganzheitliches Erkennen voraus, also die Fähigkeit einen aus einzelnen Abläufen bestehenden Vorgang auch als Ganzes aufzufassen.
Das oben beschriebene zielstrebige Vorausdenken bei der Geräteherstellung könnte hierfür als Beleg dienen und eine langsame schrittweise Entwicklung der Sprache beim Homo erectus über viele hunderttausende von Jahren hinweg annehmen lassen.

Errungenschaften des Menschen

Als entscheidend muß festgehalten werden, daß primär die geistige Fähigkeit vorhanden sein muß; sekundär sind die Anwendungen, wie Werkzeugherstellung und Feuergebrauch im Altpaläolithikum, Höhlenaneignung im Mittelpaläolithikum, Kunst im Jungpaläolithikum und Umformung der Natur im Neolithikum. (Müller-Karpe, 1974, S. 55, 70, 79, 96, 140, 162.)
Alle diese Errungenschaften sind nur möglich, wenn die Menschen auch innerlich befähigt sind, sie anzunehmen.
Selbstverständlich entstehen Neuerungen wohl immer aus den Taten genialer Einzelner, welche von den anderen nachvollzogen werden. (Das »Ei des Kolumbus«.)

Kurt Scheuerer, 1989


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